Spiegel-Reporter Cordt Schnibben präsentiert seine Sicht der Dinge aus dem Umfeld von Verlagen und Redaktionen: Weshalb Paywalls keine gute Lösung sind und warum sich Journalisten möglichst schnell «digitalisieren» sollten.
Cordt Schnibben im SPIEGELblog:
« (…) … In meinem Bekanntenkreis höre ich verschiedene Begründungen dafür, warum der eine oder die andere Zeitungen nicht mehr liest oder nicht mehr so gründlich oder mit weniger Freude. Darum bin ich in den letzten Wochen durch acht Redaktionen gezogen, um mit Chefredakteuren darüber zu sprechen, wie sie den Wandel erleben, den ihre Zeitungen durchmachen. Alle wissen, dass die goldenen Zeiten der Massenblätter vorbei sind, und alle hoffen auf neue digitale Erlöse. Die Digitalisierung des Journalismus löst im Moment noch mehr Erlösungsphantasien als Textphantasien aus, dabei mangelt es vor allem an letzterem. Printprodukte nur digital zu vermarkten, das ist so wenig die große Lösung wie Bezahlmodelle für Online-Journalismus. Letztendlich wissen wir Journalisten das auch. Wir haben uns zu lange darauf verlassen, dass Verlage und Verleger die Konzepte entwickeln, die uns und unseren Journalismus sichern. Wenn wir zukünftig diese Konzepte für neue Medien und neue Formen nicht entwickeln, dann dürfen wir uns nicht beklagen, wenn der Journalismus langsam zugrunde gespart wird.»Das Tablet ist für viele Digital Immigrants der Wendepunkt in Richtung Online-Journalismus: Mit den Tablets geniessen auch ältere Generationen Inhalte online. Bereits konsumieren 10 Mio Unique Visitors Spiegel Online. Bei Spiegel sind alle Mitarbeiter auch Verleger: Die Meisten beteiligen sich an Arbeitsgruppen, um das Produkt weiterzubringen. Aktuell wird versucht, die Spiegel-Inhalte innovativ für neue Medien aufzubereiten als hätte es nie eine Zeitung gegeben.
Die Zukunft des Journalismus wird allenthalben im Digitalen vermutet, in welcher Ausprägung weiss aber niemand so genau. An Kongressen sprechen meist Verleger zu dem Thema, Redaktionen sehen es oft nicht als ihre Aufgabe, die entsprechenden Fragen und Antworten zu evaluieren. Aktuell hangeln sich Verleger von einer Sparrunde zur nächsten, zahlreiche Blätter schliessen sogar ganz, da die bisherigen Werbeerlöse ausbleiben.@Schnibben über die Zukunft des Journalismus http://t.co/vYvkxElCUE Wer #Journalist bleiben will, sollte sich schnell digitalisieren!
— Walter Schärer (@WalterSchaerer) October 26, 2013
Warum die Digitalisierung dem Journalismus mehr gibt als nimmt
Heute werden Texte von Beginn weg digitalisiert erfasst und digital in die Druckmaschine gesendet. Auch die Recherche-Tätigkeiten werden durch Suchmaschinen massiv erleichtert. Handkehrum wandern viele Werbegelder in digital effizientere Kanäle ab, was den konventionellen Erlöskanal von Verlagen untergräbt.I. Was die Digitalisierung den Journalisten nimmt
- Leser: In 10 Jahren ging die Auflage von deutschen Blättern im Schnitt um 25% zurück.
- Arbeit: In der amerikanischen Newsindustrie arbeiteten 1978 mehr Journalisten als heute!
- Zeit: Die Lesezeit für Zeitungen und Zeitschriften ist von 34 auf 28 Minuten zurückgegangen. In 6 Jahren eine Abnahme um 16%. Im Netz hat sie zugenommen.
- Geld: Online-Werbende haben bei Tageszeitungen und Fernsehen Werbegelder abgezogen. Die Online Werbeerlöse können die wegbrechenden Print-Einnahmen bei weitem nicht auffangen.
Gannett report suggests newspaper industry will lose more than $1 billion in advertising this year | Poynter.: http://t.co/Rf0W0zZ3JV
— Cordt Schnibben (@schnibben) October 23, 2013 - Zukunft: Die Mediennutzung ist bei Zeitungen und Zeitschriften relativ tief, die Werbeeinnahmen sind aber (noch) fast so hoch wie bei TV (wo die Nutzung immerhin noch hoch ist).
- Bedeutung: Die Boston News um den Marathon wurden massgeblich von kostenlosen Online Medien verbreitet. Erst viel später kamen deutsche Blätter mit Publikationen. Und wollen Tage später dafür auch noch Geld?
II. Wie wehrt sich Journalismus gegen digitale Medien?
Die Reaktionen sind panisch. Inhalte werden verschenkt. Oder der Wandel wird negiert. Oder es werden falsche Gegenmittel versucht, z.B. Paywalls mit Membran, Metered Model, Paysector (zusätzliches Angebot für Heavy User). Die Paywall der New York Times – der besten Zeitung der Welt – wird oftmals als leuchtendes Beispiel für ein funktionierendes Bezahlmodell (Kommentar bei Digiday) herangezogen. Aber – 97% der Leser der New York Times (Metered Model) bezahlen nicht für die Inhalte… Auch E-Paper werden den Rückgang konventioneller Modelle nicht beheben.III. Was Journalisten die Digitalisierung bringt
- Mehr Leser: Immer mehr Leser lesen online
- Andere Leser: Die Leser verstehen sich neu als Korrektiv, z.T. als Blogger.
Leser sind keine Paketempfänger und Leserbriefschreiber mehr, sondern emanzipierte Partner.Konkurrenz der taz? Nicht etwa SZ und ZEIT. "Blogs, themenbezogene Blogs sind unsere Konkurrenz", @alinista #mtm13
— Dorin Popa social.tchncs.de/@NiceBastard (@NiceBastard) October 16, 2013The rise of the reader: journalism in the age of the open web | Katharine Viner http://t.co/Yv0R8cVtFP
— Cordt Schnibben (@schnibben) October 17, 2013 - Neue Medien: Tablets werden Umwälzungen auslösen wie damals die Einführung des Fernsehens. The Noob News aus Singapur ist eine für das neue Medium erstellte News-Site. Twitter hat sich als Medium etabliert: Der News-Strom ist so präzis und global, dass man nicht mehr auf einzelne Tageszeitungen angewiesen ist. Flipboard ist ein ähnliches Medium: Passen sich Verlage dieser Situation an oder bieten sie Alternativen? Die kanadische La Presse+ oder O Globo versuchen sich mit einer Abendausgabe um 17 Uhr. 80% der Tablet-User lesen ab 18 Uhr, wenn sie nach Hause kommen.
- New Journalism: Storify ist ein mächtiges Tool, das Bilder und Texte kombiniert. Es ist bei Kuratoren sehr beliebt. The Atavist ist die Publishing-Website der Creativist Storytelling-App für Tablets: Texte werden mit Hyperlinks multimedial angereichert mit Karten und Fotos. So kann man Texte für «Fachidioten» kürzen, «Idioten» können immer noch in den Hyperlinks weiterführende Erklärungen nachschlagen.
- Eine App auf dem Smartphone
- eine Abendzeitung
- lokal
- ein Kompass durch den Abend
- ohne Ressorts
- der Marktplatz einer Stadt
- u.v.m.
Journalismus 2.0 zusammengefasst:
Verlage und Redaktionen müssen schnell lernen, die neuen Medien zu bedienen und ihren guten Journalismus dort mediengerecht aufzubereiten. Dies sind optimalerweise drei Mal am Tag aufdatierte Zusammenfassungen des Geschehens mit Einordnung. Newsportale werden es schwer haben, eine Paywall durchzusetzen. Oder gemäss Holger Schmidt:"Journalismus in Zeiten von Facebook und Twitter" - eine Bestandsaufnahme des Medienwandels. http://t.co/b9LNF02QEi
— Holger Schmidt (@HolgerSchmidt) October 21, 2013
2 Kommentare
Der Vortrag von Cordt Schnibben fand bei Tamedia in Zürich statt, danke für’s organisieren!
Bezeichnenderweise rückten die meisten Journalisten mit Papier und Bleistift an. Ausser meinem konnte ich nur noch 1 anderes Laptop ausmachen…
Und ein Hashtag für den Vortrag wurde auch nicht ausgegeben. Dann braucht es natürlich auch keine Twitter-Wall…
Und statt eines Links zu Slideshare wurde ein Handout auf Papier ausgehändigt. Schwarz-weiss gedruckt.
#sogehtesnicht