Walter Schärer ist seit 16 Jahren im Web-Projektgeschäft tätig, zuerst 8 Jahre bei Agenturen, seit 8 Jahren auf Auftraggeberseite. Aus seiner Erfahrung gibt er Tipps zur Steuerung von Agenturen. Welche Formen der Zusammenarbeit haben sich bewährt? Welche Hilfsmittel sind State-of-the-Art? Wie erkennt man die Professionalität einer Agentur?
Vortrag an Reto Hartingers Internet Briefing in Zürich.
Zusammenarbeit Auftraggeber – Internetagentur
Das Internet ist trotz der enormen Möglichkeiten noch immer eine junge Disziplin. Entsprechend gibt es sehr verschiedene Vorgehensweisen und neue Projektentwicklungsmethodiken tauchen laufend auf. Hier der Versuch einer Übersicht…
Internetagentur oder Webagentur?
Der Unterschied der Begriffe liegt für Insider in der Nuance, dass Internetagenturen auch ganze Applikationen entwickeln, während Webagenturen mehr Gewicht auf das Webdesign legen. Wir Laien verwenden beide Begriffe als Synonym so wie das auch Wikipedia tut.
Welche Internetagenturen gibt es?
Heute gibt es nicht nur zahlreiche kleine und grosse Agenturen, es gibt auch vielfältige Spezialisierungen. Usability-Agenturen wie Stimmt AG werden sich eher auf die strategische Konzeption beschränken, während andere wie Zeix AG zusätzlich auch Usability-Tests mit Probanden durchführen. SwissQ berät ausschliesslich bezüglich Anforderungsmanagement (Requirements Engineering) und Testing von Software (dieses Thema wird bei kleinen Webprojekten stark vernachlässigt). MetaDesign oder Brannen beraten bezüglich der Auswirkungen auf das Corporate Branding. Buzzamite fokussiert auf Software Architektur und Suchlösungen basierend auf Java/Lucene/Solr. All diese Agenturen sind auf ein spezielles Thema fokussiert und entsprechend hilft es, wenn auch der Auftraggeber davon ein gutes Verständnis hat, um ein gutes Briefing zu schreiben.
Kleinst- und Kleinunternehmen wie sibenaler mca, cchin.ch, Hausheer, samplezone, Information Architects oder Netzbarkeit gibt es unzählige. Sie sind oft hochgradig flexibel, kompetent und meist relativ günstig. Nachteilig sind naturbedingt die quantitativ beschränkten Ressourcen und wenig Ausfallsicherheit.
Für Kleinprojekte wie Corporate Websites oder Teilprojekte kann man solche Agenturen gut berücksichtigen. Teils skalieren sie dank guter Tool-Kenntnisse bis zu beachtlich grossen oder technisch raffinierten Websites.
Punkto Grösse in der «Mittelklasse» spielen Agenturen mit ca. 10 bis 30 Mitarbeitern. Sie haben oft einen beeindruckenden Track-Record und viele Inhouse-Spezialisten für verschiedene Ausprägungen. Kreativität und technische Umsetzung sind oft ihre besonderen Stärken. Netvertising baut beispielsweise u.a. grafisch besonders attraktive Websites, Previon oder NC AG sind bevorzugt im Cross-Media-Publishing tätig, Station AG integriert die gesamte digitale Kommunikation über alle Kanäle, Inventage ist stark in Software-Entwicklung mit Security-Fokus.
Den «oberen» Abschluss bilden Grossagenturen. Crealogix, Namics, Futurecom, Unic, 1eEurope oder youngculture sind typische Vertreter. Einen starken Fokus auf Software-Entwicklung haben Netcetera, Adnovum, Ergon oder Liip. Grossagenturen verfügen naturgemäss über unterschiedliche Spezialitäten und bringen einen reichen Erfahrungsschatz und grössere Ausfallsicherheit mit.
Grösse der Agentur: Wie verhalten sich kleine und grosse Agenturen?
Kleinagenturen haben naturgemäss keinen Overhead und können deshalb günstiger offerieren. Wichtig ist hier besonders, dass man sich persönlich gut versteht, ein alternativer Projektleiter steht ja im Problemfall nicht zur Verfügung. Kleinagenturen tendieren manchmal zu ‹fire & forget›: Sie erstellen eine Website zwar bis zum Schluss, gehen dann aber schnell zum nächsten Projekt weiter. Der Kunde wird beim fast noch wichtigeren Betrieb und der Weiterentwicklung der Website alleingelassen. Das ist auch verständlich: Würden sie bei jedem Projekt noch Betriebsunterstützung leisten, könnten sie nach 5-6 Projekten gar keine Neuaufträge mehr annehmen, da sie bereits ausgelastet wären.
Man sollte sich auch ein Vorgehen überlegen, falls es die Kleinagentur eines Tages nicht mehr geben sollte: Hat man ein standardisiertes System/CMS bestellt, das auch von einer andern Agentur übernommen werden kann? Die Risikoanalyse ist nicht die Stärke von Kleinagenturen, da sie ja täglich mit dem grossen Ausfallrisiko leben…
Grossagenturen bieten den Vorteil des «Alles aus einer Hand«. Meist sind hier alle involvierten Disziplinen in-house verfügbar und man braucht nicht verschiedene Dienstleister zu koordinieren.
Diese Koordination und den administrativen Overhead muss man natürlich bezahlen… Dafür gibt es eine längerfristige Sicherheit, dass der Anbieter auch in ein paar Jahren noch den Betrieb der Lösung unterstützen kann.
Grossagenturen können es sich eher leisten auch Marktforschung zu betreiben und ihre Mitarbeiter systematisch weiterzubilden. Dies geschieht bei Kleinagenturen dafür «automatisch», denn bleiben sie nicht ständig fachlich kompetent, verschwinden sie einfach vom Markt, da sie keine Aufträge mehr erhalten…
Für mich hat sich bei grösseren Vorhaben die Zusammenarbeit mit Grossagenturen bewährt unter Beizug von Kleinagenturen für Teilprojekte oder Spezialthemen wie grafisches Design, Usability, CSS-Coding, Testing, CMS, ERP-Anbindung, Applikationsarchitektur, Social Media, SEO, SEM, etc.
Durch die Agentur abzudeckende Disziplinen
Internetagenturen bieten alle alles. Meint man manchmal. Deshalb ist es wichtig, sich bewusst zu machen, welche Dienstleistungen man beanspruchen wird. Klar ist es nicht einfach zu wissen, was man nicht weiss: Benötigt man Beratung (Businessplan? Konzept? Kundenansprache?), Gestaltung (Graphik? Usability?), Programmierung (Programmiersprache? CMS? Shop?), Pflege (Betrieb! Verfassen der Inhalte?), Marketing (SEO? SEM? Social Media? PR?), etc.
Und wenn dann also tatsächlich Beratungsbedarf identifiziert hat, wer erstellt beim Auftraggeber die entsprechenden Briefings für die Agentur? Ein kleines Beispiel für die potentielle Komplexität heutiger Anforderungen anhand der Teildisziplin SEO:
(Branchen-)Knowhow der Agentur: Was sind die Vor- und Nachteile von Branchen-Knowhow des Lieferanten?
Jede Branche hält sich bekanntlich für besonders und entsprechend heben Branchenspezialisten ihre Dienstleistungen hervor. Umgekehrt behaupten Generalisten, dass sie durch ihre unvoreingenommene Sicht einen Mehrwert durch branchenfremde Innovationen bringen können. Die Komplexität liege in der Herstellung von Software und nicht im Verständnis der Business-Prozesse.
Ich habe schon mit beiden Ansätzen gute Erfahrungen gemacht, wobei mir die Reisebranche schon sehr speziell scheint und ich dort für Grossprojekte einen Branchenanbieter empfehle, der sich mit den komplexen Reservationssystemen auskennt.
Wasserfall vs. Agile: Wie arbeitet die Agentur, wie arbeitet der Auftraggeber?
Software-Entwicklung alter Schule basierte auf dem Wasserfallmodell: Zuerst wurden alle Anforderungen formuliert (Anforderungen sind kaum je vollständig), dann die entsprechenden «Bücher» an die Software-Entwickler übergeben und dann hatte man entweder die Kosten oder den Termin überschritten oder das Resultat entsprach nicht den Vorstellungen des Auftraggebers.
In der Entwicklung kleinerer Websites war dieses Vorgehen selten praktikabel: Die Auftraggeber wussten lange Jahre zu wenig genau was sie wollten, zu neu war das Medium. Entsprechend skizzierten die Agenturen verschiedene Vorgehensweisen und meist wurde die Lösung iterativ in kleinen Schritten erarbeitet. Daraus entstanden moderne agile Projektentwicklungsmethoden wie Scrum (Scrum-Intro von Olav Reinert) oder Kanban (Begriffserklärung bei leanability.com): Sie nähern sich der Lösung in kleinen, aber dafür schnellen Iterationen. Der Auftraggeber sieht sehr schnell Resultate und kann seinen Auftrag gegebenenfalls im Laufe des Projektes ändern. Dieses Vorgehen eignet sich besonders für Grossprojekte.
Empfehlenswerte Scrum-Kurse gibt es in Zürich von Peter Stevens.
Scrum Product Owner oder wie versiert ist der interne Projektleiter?
Scrum ist zwar eine bewährte Projektentwicklungsmethodik, sie verlangt aber vom Auftraggeber auch viel Flexibilität und Disziplin: Da man das Ziel in kleinen Iterationen anpeilt und dabei die vorgedachte Marschrichtung ändern kann, weiss man im vornherein nicht genau, wo man am Projektschluss landen wird. Da der Internetmarkt und die entsprechende Konkurrenz sehr viel Dynamik entwickeln, ist dies aber auch ein Vorteil: Je nach Neuentwicklungen am Markt kann man sein eigenes Produkt im Projektverlauf noch ändern, ohne viel bereits geleistete Arbeit zu verlieren.
Am produktivsten ist es deshalb, wenn der Auftraggeber einen qualifizierten «Scrum Product Owner» stellt, der sehr nah mit dem Dienstleister zusammenarbeitet, am besten z.T. vor Ort bei den Entwicklern. So erhält der Auftraggeber ein gutes Gefühl, dass für die eingesetzten Investitionen schliesslich auch das gewünschte Resultat geliefert wird, auch wenn man dieses beim Projektstart noch nicht genau benennen konnte und entsprechend nur eine Grobofferte mit allfälligem Kostendach erstellt werden konnte.
Der Begriff «Kostendach» sollte übrigens beim Vertragsabschluss genau definiert werden: Denkt der Auftraggeber, dass das Projekt zu einem maximalen Geldbetrag geliefert wird (so oder so) und denkt der Lieferant, dass bei erreichen des Kostendachs aufgehört wird zu arbeiten, so hat man in der Projektschlussphase allenfalls ein kleines Problem… «Kostendach» sollte also nicht mit «Fixpreis» verwechselt werden.
Optimale Form der Zusammenarbeit: Onsite vs. einzelne Meetings vs. Offshoring
Für kleinere Projekte reichen sporadische einzelne Meetings, um den Arbeitsfortschritt abzugleichen.
Bei grösseren Projekten mit Scrum empfiehlt sich ein grosser Onsite-Anteil, bei dem Auftraggeber und Auftragnehmer am selben Ort arbeiten: Der Product Owner braucht im Vorfeld weniger umfassend zu dokumentieren und klärt Fragen der Entwickler gleich interaktiv vor Ort.
Offshoring bleibt weiterhin komplex und bewährt sich nur teilweise oder nur in bestimmten Konstellationen. Nearshoring in Europa ist deshalb in neuster Zeit ein weit verbreiteter Trend, da man bei uns zu wenig Software-Entwickler findet und sie an Europas Peripherie günstiger arbeiten. Die kulturellen Unterschiede sind weniger gross als zu Indien und die Zeitverschiebung ist vernachlässigbar. Nearshoring scheint sich am besten zu bewähren, wenn der Lieferant für die Kundenkommunikation Berater oder Projektleiter hier vor Ort hat und sich diese mit ihren Entwicklern absprechen.
Kommunikation von Projektumfang und Budget
Das Schätzen des nötigen Projektbudgets ist ein Ding der Unmöglichkeit, sowohl für den Auftragnehmer als auch für die Agentur:
- «Software-Engineering» ist a statement of hope, not fact.
- It is impossible, by examining a piece of completed
code, to determine, within a factor of 2, how many
man-hours it took to write. - If you can’t tell how long ï¬nished software took to write,
what’s the chance of estimating it before writing the ï¬rst
line?
Siehe auch die Einführung zu Scrum von Olav Reinert.
Bei Grossprojekten bietet sich mit Scrum das ‹time-boxed Offering‹ an: Man definiert die zur Verfügung stehenden Ressourcen (Manntage x Tagesansatz = Budget) und versucht dann innerhalb dieses Budgets etwas «vernünftiges» zu entwickeln.
In diesem Sinne ist beim Projektstart noch nicht im Detail klar, was man beim Launch der Website anbieten kann. Entsprechend anspruchsvoll ist die Projektkommunikation an die Stakeholder und deshalb ist es so wichtig, dass der Product Owner sehr eng mit den Entwicklern arbeitet, um ein «gutes Gefühl» zu haben.
Dokumentation des Projekts und der Anforderungen (Requirements-Management)
In grösseren Projekten ist es nicht realistisch, alle Anforderungen beim Projektstart formuliert zu haben. Dazu ist von vornherein klar, dass sich die Anforderungen im Projektverlauf meist noch ändern werden: Entweder weil beim Auftraggeber der Kenntnisstand gewachsen ist und er/sie deshalb die Anforderungen ändert oder weil ein Konkurrent ein neues Produkt/Dienstleistung auf den Markt gebracht hat.
Die Projektdokumentation sollte dem Rechnung tragen und entsprechend flexibel aufgebaut sein. Ich habe mit Projekt-Wikis gute Erfahrungen gemacht: Alle Projektteilnehmer haben online Zugriff auf die Dokumentation, alle arbeiten mit demselben Tool. Die grosse Freiheit kann auch problematisch sein und Wildwuchs fördern. Deshalb sollte ein «Redaktor» bestimmt werden, der die Ordnerstruktur des Wikis vorgibt und «sauber» hält, indem er Autoren immer wieder schult, welche Inhalte wohin gehören und wie vertagged werden.
Kommt für das Bug-Reporting ein Ticketing-System dazu, sollte man zusätzlich klare Anweisungen geben, welche Dokumentation ins Wiki und welche ins Ticketing-System gehört.
Technische Hilfsmittel: Wikis, Ticketing-Systeme, Online-Kollaboration
Ich habe sehr gute Erfahrungen mit dem Confluence-Wiki von Atlassian gemacht. Neben der Wiki-Funktionalität (alle Projektteilnehmer intern oder extern sind Autoren) bietet es zahlreiche nützliche Erweiterungen wie die Integration von Balsamiq für «digitale Handskizzen» oder Gliffy für Flussdiagramme.
Confluence integriert auch mit Atlassians Ticketing-System Jira. Aus der Dokumentation kann so direkt auf ein Ticket verwiesen werden.
Für die Kommunikation über verschiedene Standorte hat sich Skype und dessen Bildschirm-Sharing gut etabliert.
Bei grossen Projekten ist der Einsatz einer Testing-Software wie z.B. TOSCA zu evaluieren: Bei häufigen Releasezyklen will man nicht immer wieder alle Funktionen von Hand testen, sondern höchstens die Testfälle aufdatieren.
Eine umfangreiche Liste mit Kollaborations-Tools für Unternehmen oder Projekte findet man bei 1stWebdesigner.com.
Wie findet man nun die richtige Internetagentur / Evaluation?
Umfassende Checklisten bezüglich Auswahl der Agentur findet man bei marketing-ideen.ch oder bei webkalkulator.com
Auch eine gute Anlaufstelle ist die Mitgliederliste der simsa, des Branchenverbands der Schweizer Internet-Wirtschaft.
Aber wie schon im Brick-and-Mortar Zeitalter ist auch Mund-zu-Mund Propaganda ein sehr nützliches «Werkzeug»…
https://twitter.com/#!/WalterSchaerer/status/110974803158106112
Meine Liste der Agenturen ist bei weitem nicht vollständig. Kennen Sie einen weiteren Dienstleister, den Sie unbedingt empfehlen möchten?
Welche andern Formen der Zusammenarbeit haben sich bewährt?
Setzen Sie auf Branchenknowhow oder auf Generalisten?